«hallowil.ch»: Frau Sauer, Frau Schildknecht, im Jahr 1991 verlangten die Frauen Lohngleichheit, Gleichstellung im Berufsleben, soziale Sicherheit und ein Ende der sexuellen Belästigung. Viele Forderungen sind bis heute nicht eingelöst. Hat der grosse Streik nichts gebracht?
Mirta Sauer: Doch das hat er. Nach diesem grossen Streik wurden das Gleichstellungsgesetz und der Mutterschaftsurlaub eingeführt. Man darf nicht vergessen, dass es auch lange gedauert hat bis man zum Frauenstimmrecht gekommen ist. Vieles hat damit zu tun, dass das traditionelle Rollenbild von Frau und Mann in der Gesellschaft tief verankert ist. Es werden eben nur kleine Schritte in die richtige Richtung gemacht. Und genau deshalb brauchen wir den Frauenstreik, der hoffentlich jetzt mehr bringt.
Miriam Schildknecht: Die Frauen sind heute natürlich ungeduldiger geworden, weil die ganz grossen Veränderungen beziehungsweise Verbesserungen ausbleiben. Das hat etwas mit der Schweizer Gesellschaft zu tun. Es braucht einfach sehr viel Zeit bis wir beispielsweise so weit wie die skandinavischen Länder sind.
«hallowil.ch»: Alle reden vom Gleichstellungsgesetz, das nach dem ersten grossen Frauenstreik erlassen wurde. Trotzdem kämpfen Frauen noch heute für die Lohngleichheit.
Mirta Sauer: Das hat eindeutig mit der fehlenden Lohntransparenz zu tun. Diese Transparenz würde nicht nur uns Frauen etwas bringen, sondern auch den Männern. Auch sie können keine Vergleiche in Bezug auf ihren Lohn machen – und wenn sie mal etwas wissen, dann weil sie es zufällig erfahren haben. Ich kenne eine Wiler Ärztin, die noch vor wenigen Jahren herausgefunden hat, dass sie 1500 Franken weniger verdiente als ein männlicher Kollege in der gleichen Position. Und das obwohl sie drei Jahre älter war und sogar mehr Führungsaufgaben hatte. Sie wehrte sich dann, aber das brachte nichts. Also wechselte sie den Arbeitgeber. Auch wenn es in den letzten Jahrzehnten besser geworden ist, haben wir leider unbestritten noch heute eine grosse Lohnungleichheit.
«hallowil.ch»: Viele heissen die Lohnungleichheit gut, weil sie davon überzeugt sind, dass eine Gleichheit nicht fair ist. Weil nicht alle Menschen – sei das aus physischen oder psychischen Gründen – das Gleiche leisten können. Als Beispiel nennen viele handwerkliche Berufe: So könne eine Automechatronikerin, physisch gesehen, nicht das Gleiche leisten wie ihre männlichen Kollegen.
Mirta Sauer: Ja, dass die gleiche Frau mit ihren dünnen Fingern an jede noch so kleine Schraube besser gelangt als der Mann mit seinen grossen Händen, das wird natürlich nicht berücksichtigt. Zudem gehören 75 Prozent unserer Arbeitsstellen dem Dienstleistungssektor an, in dem die Muskelkraft nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Frauen müssen gleiche Löhne für die gleiche Arbeit bekommen.
Miriam Schildknecht: Und genau da liegt das Problem. Frauen getrauen sich nicht. Männer machen das viel offensiver und selbstbewusster.
«hallowil.ch»: Woran liegt das?
Miriam Schildknecht: Uns Frauen wurde Jahrzehnte lang eingetrichtert, dass wir demütig und bescheiden sein müssen. Uns wurden gewisse Rollen auferlegt.
Mirta Sauer: Im Jahr 2019 ist es einfach unverschämt, dass Frauen immer noch 20 Prozent weniger verdienen als Männer. Ausserdem müssten die Löhne in typischen Frauenberufen längstens mit einer deutlich höheren Entlohnung angepasst sein. Frauen sollen doch auch alleine würdig über die Runden kommen können.
Miriam Schildknecht: Ich finde es erschreckend, dass sich junge Frauen kaum mit ihrer Pensionskasse und Altersvorsorge auseinandersetzen. Viele sind sich gar nicht bewusst, welche Auswirkungen eine berufliche Pause nach der Schwangerschaft auf die Pensionskasse hat. Viele wissen nicht, auf was sie sich einlassen, wenn sie sich ausschliesslich für die Kinderbetreuung entscheiden. Es reisst riesige Löcher, die sich dann erst im Pensionsalter bemerkbar machen. Hinzukommt, dass wir auch nicht sicher sein können, dass wir für immer mit dem Ehepartner zusammenbleiben. Immerhin haben wir hier in der Schweiz eine Scheidungsrate von 50 Prozent.
Mirta Sauer: Und wenn wir schon beim Thema Scheidungen sind. Würden die Frauen besser verdienen, würde sich eine Scheidung auch anders auf den Mann auswirken. Viele Männer müssen nach einer Trennung hohe Unterhaltskosten für die Kinder und Ex-Partnerin, die sich um die Erziehung kümmert, tragen. Dabei kommt es nicht selten vor, dass die betroffenen Männer trotz gutem Einkommen am Existenzminimum leben.
«hallowil.ch»: Was hat sich denn seit dem Jahr 1991 gesellschaftlich ins Positive verändert?
Mirta Sauer: Besonders verbessert hat sich der Zugang zur Bildung. Heute sind mehr als 50 Prozent der Gymnasium-Abgänger tatsächlich Frauen. Diese Entwicklung war und ist wichtig.
Miriam Schildknecht: Jetzt kommt das grosse Aber. Kaum stehen die Frauen vor der Familienplanung und der Mutterschaft, können sie ihre Berufe gar nicht mehr ausüben. Sie geraten in die sogenannte Mutterfalle. In diesem Sinne nützt ihnen ihre hervorragende Ausbildung nichts. Weil sie in Führungspositionen gar nicht Teilzeit arbeiten können. Oft heisst es, dass sie dann mindestens 80 Prozent arbeiten müssten, um die Arbeitsstelle behalten zu können. Es gibt nach wie vor kein sinnvolles Modell, das den Frauen ermöglicht, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Noch heute hört man, dass sich die Frauen zwischen Karriere und Familie entscheiden müssen. Die Männer hingegen müssen sich in keinem Bereich entscheiden.
Mirta Sauer: Und daraus wird dann eine moralische Geschichte gemacht. Es wird ein Krieg unter den Müttern ausgelöst, indem man fragt, wer die bessere Mama ist. Die, die sich den ganzen Tag den Kindern und dem Haushalt widmet. Oder die, die nebenbei noch arbeiten geht.
Miriam: Schildknecht: Hier fehlt jegliche Solidarität. Man muss doch die einzelnen Modelle nicht gegeneinander ausspielen. Heute sollte doch eine Mutter – ohne Vorurteil – die freie Wahl haben können, ob sie Vollzeit zu Hause bleiben möchte oder Teilzeit arbeitet und ihre Kinder in Fremdbetreuung gibt.
Mirta Sauer: Die freie Wahl hat eine Mutter auch nur, wenn der Ehemann genug verdient. Ist das nicht der Fall, muss sie sogar arbeiten gehen. Und in der heutigen Gesellschaft sollten doch alle Familien frei entscheiden können, wie sie sich im Alltag organisieren möchten.
«hallowil.ch»: Und was ist hierfür nötig?
Mirta Sauer: Die Anerkennung der sogenannten Care-Arbeit. Denn Frauen leisten eindeutig den Grossteil der Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit. Die Gesellschaft sollte sich vor Augen führen, dass sie ohne diese Arbeit nicht funktionieren könnte. Die Frauen sind es, die sich um das Wohlergehen der Kinder und der betagten Eltern kümmern. Und deshalb müssen wir Frauen eine gerechte Verteilung der Care-Arbeit fordern – aber auch Wertschätzung und Geld.
Miriam Schildknecht: Die Berufsmodelle, in denen wir von acht Uhr bis teilweise spät abends im Büro sitzen, sind überholt und alles andere als familienfreundlich. Ein Vorbild sind da die skandinavischen Länder. In Schweden beispielsweise sind die Arbeitszeiten deutlich kürzer. Da gehen die berufstätigen Eltern ab acht Uhr arbeiten, die Kinder sind währenddessen in der Schule versorgt. Und um 15 Uhr, wenn der Unterricht endet, sind Mütter und Väter mit der Arbeit fertig. Danach beginnt die Familienzeit. So lassen sich Familie und Beruf vereinbaren. Lebensqualität pur. Natürlich sind diese Visionen für die Schweiz weit weg. Dieser Anspruch muss in erster aus der Arbeitswelt kommen. Die Wirtschaft muss sagen: Wir möchten vollumfänglich familienfreundliche Arbeitsplätze schaffen.
«hallowil.ch»: Skandinavische Familien- und Arbeitsmodelle sind bekannt. In vielen Studien heisst es, dass die Menschen dort besonders glücklich sind.
Miriam Schildknecht: Die Arbeitskräfte sind dort viel motivierter und effizienter. Die Kinder sind gebildeter und ausgeglichener. Hinzukommt, dass ihre Wirtschaft erfolgreich ist. Sie haben keinen niedrigen Wohlstand, nur weil sie weniger arbeiten. Im Gegenteil.
Mirta Sauer: Wir Schweizer haben uns daran gewöhnt, der Wirtschaft zu gehorchen. Deshalb muss sie Wirtschaft in Zukunft soziale Aufgaben übernehmen – dafür müssen wir ihr klare Forderungen stellen und das nicht nur in Bereichen, die uns Frauen betreffen. Schlussendlich ist die Wirtschaft auf die gutausgebildeten Frauen angewiesen. Hierfür brauchen wir auch die Unterstützung der Männer.
Miriam Schildknecht: Für diesen Schritt sollte die stimmberechtigte Bevölkerung die richtigen Politiker wählen, denen vor allem Familien-Themen am Herzen liegen.
«hallowil.ch»: Am Freitag, 14. Juni, findet eben in der ganzen Schweiz der Frauenstreik statt. So auch in Wil. Wie wichtig ist dieser Tag?
Mirta Sauer: Er ist nicht nur wichtig, er ist bedeutend. Gemeinsam aufstehen, gemeinsam solidarisch sein und gemeinsam etwas für die Frauenrechte tun. Es gibt noch so viele Punkte, die eingefordert werden müssen. Von der Lohngleichheit, dem Ende der sexuellen Belästigung über die Abschaffung von geschlechterspezifischen Stereotypen, die Selbstbestimmung über unseren Körper bis hin zur Reduktion der Arbeitszeit. Und das wollen wir mit einem gleichbleibenden Lohn. Diese Reduktion ist wichtig, damit wir die natürlichen Ressourcen unseres Planeten nicht weiter ausbeuten. Aber auch weil wir mehr Zeit für unsere Familien und unser Sozialleben wollen.
«hallowil.ch»: Heuer nehmen auch die katholischen Frauen und die Landfrauen teil. Die verschiedenen Probleme der Frauen sind definitiv in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ist damit eine grössere Dimension erreicht?
Miriam Schildknecht: Das auf jeden Fall. Im Jahr 1991 wurde das ganze Thema in die linke Ecke gedrückt. Frauen, die sich für ihre Rechte eingesetzt haben, wurden als Männer-Hasserinnen, Feministinnen und Lesben beschimpft. Heute gehen Frauen viel selbstverständlicher an den Frauenstreik. Aber der Frauenstreik betrifft nicht nur das weibliche Geschlecht selbst. Viele unterschätzen das, dass all diese Themen auch den Mann etwas angehen. Heute gibt es genug Männer, die gerne Teilzeit arbeiten und mehr Verantwortung in der Kindererziehung übernehmen möchten. Denn die Männer kommen mit der klassischen Rolle des Ernährers nicht mehr klar.
Warum wird dieser Tag heute intensiver wahrgenommen?
Mirta Sauer: Seit der Wahl des amerikanischen Präsidenten Donald Trump und seit der globalen «me too»-Kampagne ist die Öffentlichkeit sehr für Frauenthemen empfänglich. Auch in den Medien werden alle diese Themen aufgegriffen. So setzt man sich vermehrt mit der Situation der Frauen auseinander.
«hallowil.ch»: Heute weiss man nicht so genau, ob wir bei den ganzen Themen einen Schritt vorwärts oder rückwärts gegangen sind.
Mirta Sauer: Ich denke beides. Jede Bewegung hat zwei Seiten. Dadurch, dass aktuell vermehrt über Frauenthemen diskutiert wird, werden auch die Gegner mobilisiert.
«hallowil.ch»: Die Probleme mit denen die Frauen heute kämpfen müssen, sind, wie in diesem Gespräch deutlich wird, breit gefächert. Eben eines der grössten und zentralsten Herausforderungen für die Frau: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Warum?
Miriam Schildknecht: Diesbezüglich ist das völlig überholte Bild einer Mutter ein grosses Problem. Die Diskussion wie eine Mutter sein soll oder was eine gute Mama ist, finde ich tragisch. Das muss aufhören. Denn es gibt so viele verschiedene Familienmodelle und Möglichkeiten wie die Mutterrolle gelebt werden kann. Wir Frauen lassen uns auch schnell verunsichern. Männer sind da anders.
Mirta Sauer: Väter haben es heute aber auch nicht leicht. Sie werden auch in die Rolle des Ernährers gedrängt und sind nur gute Papas, wenn sie finanziell für ihre Familien sorgen können. In diesem Sinne ist auch die Rolle des Vaters total überholt. Ich bin davon überzeugt, dass wir in der Schweiz eine Elternzeit einführen sollten. Das reicht auch schon, wenn die Mutter vier Monate Mutterschaftsurlaub bekommt und der Vater vier Monate Vaterschaftsurlaub. Das hätte zur Folge, dass auch mal die Männer von Arbeitgebern gefragt werden, wie es mit ihrer Familienplanung aussieht – und somit würde der Druck nicht nur auf den jungen Frauen lasten. Und: Die Väter müssten auch erfahren, wie anstrengend und herausfordernd es ist, ein Baby zu betreuen. Wir Frauen müssen aber auch unsere Kinder loslassen können. Eine Fremdbetreuung ist nicht schlecht. Im Gegenteil: Sie hat positive Auswirkungen auf eine ganze Familie. Ich kann nur etwas Wichtiges auf den Weg mitgeben, das mir mit dem Frauenstreik besonders am Herzen liegt: Ändern wir nicht die Frauen, ändern wir die Gesellschaft.