«Der Kanton St. Gallen und die Eidgenossenschaft verloren mit ihm einen der fähigsten Staatsmänner der Zeit», resümierte ein Biograf das Wirken von Carl Georg Jakob Sailer. Er verstarb 1870 an einer bereits länger bestehenden Krankheit. Der Werdegang von Sailer entspricht einer typischen Politkarriere in der Schweiz, er weisst einige Parallelen zur heutigen Bundesrätin Karin Keller-Suter auf. Wie sie startete er auf Gemeindeebene und stieg Stufe für Stufe bis in die Bundespolitik auf. Er galt als möglicher Bundesratskandidat.

Sailer lebte in einer Zeit, in der sich die politischen und gesellschaftlichen Strukturen erheblich veränderten. Als er zur Welt kam, war der Kanton St. Gallen wenige Jahre alt. Der im Jahr 1817 Geborene entstammte einer Familie von äbtischen Bediensteten. Er studierte in Freiburg im Breisgau sowie in Jena Rechtswissenschaften. Anschliessend war er in St. Gallen in einer Kanzlei angestellt, bevor er sich in Wil als Anwalt beruflich selbständig machte.

Oberhaupt der Stadt

Sailer wohnte im stattlichen Haus Rosenberg, das noch heute an der Ecke Fürstenlandstrasse/Neulandenstrasse steht. Im Jahr 1849 wurde er Gemeindepräsident von Wil, dieses Amt übte er bis 1857 aus. Das damalige Wil unterschied sich erheblich vom heutigen. In diesen Jahren wohnten rund 1500 Menschen im Markt- und Handelsstädtchen, das bebaute Areal war wesentlich kleiner als heute.

Während der Amtszeit von Sailer wurde in Wil die erste Eisenbahnlinie eröffnet. Man kann heute nur noch erahnen, welche Sensation dies damals war. In der sehr ländlich geprägten Region hielt in dieser Epoche allmählich das Maschinenzeitalter Einzug. In jenen Jahrzehnten wurden verschiedene Textilunternehmen in Wil und in der gesamten Ostschweiz gegründet, der Landesteil nahm wirtschaftlich Aufschwung. Aus manchen Bauern wurden Arbeiter.

Zudem entwickelten die Bürger als Folge der französischen Revolution ein stärkeres Selbstbewusstsein. Es regte sich Widerstand gegen den Obrigkeitsstaat, die Bürger wollten über den Gang der Dinge vermehrt mitbestimmen. 

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Dier erste Bundesverfassung der Schweiz von 1848. 


Neue Schweiz

1848, ein Jahr vor der Wahl von Sailer zum Wiler Stadtoberhaupt, war das Geburtsjahr der modernen Schweiz, sie erhielt eine zeitgemässe Bundeverfassung. An deren Entstehung hatten die Liberalen massgeblich mitgewirkt; Sailer gehörte dieser politischen Bewegung an. In jener Epoche prallten unterschiedliche weltanschauliche Lager aufeinander, die katholisch-konservativ Orientierten trafen auf die Freisinnig-Liberalen. Beide Seiten hatten ihre eigenen Zeitungen als Sprachrohre. Im Jahr 1845 gründeten die Konservativen den «Wahrheitsfreund», ein Jahr später begannen die Freisinnigen den «Pilger an der Thur» zu publizieren. Sailer war dort Redaktor.

Einflussreiche Persönlichkeit

Der engagierte Politiker hatte zahlreiche politische Ämter inne: Er war Mitglied des Kantonsrat, später als Regierungsrat stand er dem Justiz- und Polizeidepartement vor, er wurde zudem in den Nationalrat gewählt, sass als Ständerat in der kleinen Kammer. Im Weiteren war er Richter am obersten Gericht der Schweiz, nachdem er bereits Erfahrung als Richter am Kantonsgericht gesammelt hatte und dieses zeitweise präsidierte. Er war auch katholischer Administrationsrat.

Sailer war nicht nur ein umsichtiger und einflussreicher Politiker, er war auch sprachlich begabt. Aus seiner Feder stammt etwa eine «Chronik der Stadt Wil», die von einem umfassenden Wissen und grossem Fleiss zeugt. Er schrieb auch das historische Theaterstück «Die Nonne von Wyl. Ein vaterländisches Drama in 5 Akten».

Treffpunkt der innovativen Kräfte

In der Taverne «Zum Löwen» in der unteren Vorstadt, am Beginn der Toggenburgerstrasse, las Sailer seinen Freunden erstmals aus seinem Werk, das von der Nonne handelt, vor. Jenes Lokal war der Treffpunkt verschiedener kreativer Geister. Zudem wurde dort auch im Jahr 1856 der «Wyler Anzeiger» gegründet, aus dem später die «Wiler Zeitung» hervorging. Auch die freiwillige Feuerwehr wurde dort ins Leben gerufen.

Carl Georg Jakob Sailer, der arbeitsame Dichter, Richter und Politiker starb 1870. Zu seinem Gedenken wurde in Wil eine Strasse benannt, die Georg-Sailer-Strasse im Lindenhofquartier.