Dieter Basler sitzt im Gemeinschaftsraum des Hauses Otmar, das sich an der Mattstrasse in Wil befindet. Seit sechs Jahren lebt er hier. «Aber nicht freiwillig», sagt der 61-Jährige, der von sich behauptet, ein zweites Mal geboren worden zu sein. Er lacht. «Im Jahr 2013 habe ich ein neues Herz bekommen», erzählt Basler offen. Aber das sei nicht der Hauptgrund, warum er im Haus Otmar Zuflucht gesucht hat. «Wir haben in der Schweiz ein System, das nicht immer ganz fair ist», führt er weiter aus. Vor einem Jahrzehnt war er noch selbständiger Lüftungsmonteur. Ihm und seiner Familie sei es immer gut gegangen.

Erst als ein Berater einer Unfallversicherung bei ihm eine Unternehmenskontrolle gemacht hat, kamen die Probleme. Ihm wurde unterstellt, dass er überhaupt nicht selbständig sei und keine offiziellen Rechnungen geschrieben habe. Zudem habe die betreffende Versicherung seinen Partner, Lieferanten und Kunden mitgeteilt, dass er Schwarzarbeit betrieben habe. «Mein Name als Lüftungsmonteur war schweizweit verbrannt», sagt Basler heute. Als Vater zweier Töchter und Hauptverdiener war er gezwungen, zum RAV zu gehen. «Dort erklärte man mir, dass ich keinen Rappen bekommen werde, weil ich selbständig ein Unternehmen geführt habe», erinnert sich Basler noch heute. Arbeitslosengeld wollte man ihm ebenfalls nicht geben. «Weil meine Frau 40 Franken zu viel verdient hat, konnte meine Familie und ich nichts bekommen». Mittlerweile ist er getrennt von seiner Frau und kann sich keine eigene Wohnung leisten. 

Eine Sozialpädagogin leitet das Haus

Seit dem Jahr 1906 besteht der Verein St. Otmarsheim in Wil. Diesem liegt es am Herzen, Männern verschiedenen Alters in einer schwierigen Lebenssituation eine günstige Wohnmöglichkeit anzubieten. Ursprünglich wurde das Haus als katholisches Heim gegründet. Heute wird der Verein von der Stadt Wil und der katholischen sowie der evangelischen Kirchgemeinde unterstützt. Früher wurde das Haus als Lehrlingsheim genutzt und vor allem von Lehrlingen bewohnt, die nicht aus der umliegenden Region kamen. 

«Jeder Bewohner hier hat eine bewegende Geschichte, jeder trägt seinen Rucksack mit sich», sagt Naemi Krähenmann. Sie sitzt auf dem roten Sessel neben dem Klavier, das im sogenannten Loft steht. Die zweifache Mutter hat seit einem Jahr die fachliche Leitung des Hauses. Sie ist ausgebildete Sozialpädagogin, die zuvor im Kinder- und Jugendbereich gearbeitet hat. Die Arbeit, die sie mit einem 40-Prozent-Pensum wahrnimmt, macht der jungen Frau Spass. Sie sei immer wieder beeindruckt, wie gut und reibungslos die Männer das Zusammenleben auf engstem Raum meistern würden. «Die meisten Männer sind sehr unkompliziert», sagt Krähenmann. Natürlich komme es auch hier einmal zu Auseinandersetzungen. «Die grösste Herausforderung ist, weder zu viel noch zu wenig unter die Arme zu greifen», sagt Krähenmann. Denn die Mitarbeiter müssten dafür sorgen, dass die Bewohner selbstständig bleiben. «Das Ziel ist, dass sie irgendwann selbständig leben», erzählt Krähenmann.

Heute ist das Haus Otmar eine Pension für Männer ab dem vollendeten 18. Lebensjahr. Die betroffenen Männer, die im Haus einen Zufluchtsort suchen, stecken in einer schwierigen Lebenslage. Das Haus Otmar ist aber kein betreutes Wohnheim mit Ärzten, Psychologen und Therapeuten. Die meisten jungen Menschen suchen meist nur eine Unterkunft als Übergangslösung, weil zu Hause mit den Eltern eine angespannte Atmosphäre herrscht. So bekommen sie eine wichtige Unterstützung, die ihnen hilft mit dem Erwachsenwerden zurechtzukommen. Andere suchen hier für wenige Tage eine Bleibe, weil sie sich von ihrer Partnerin getrennt und schnell die gemeinsame Wohnung verlassen haben. Wiederum andere haben finanzielle Probleme und können sich eine eigene Wohnung nicht leisten. Auch ältere Menschen, die bereits das Pensionsalter erreicht haben, werden im Haus Otmar aufgenommen. In den vergangenen Jahren konnte man auch Menschen finden, die Aufenthalte in verschiedenen Heimen hinter sich haben – wie ehemalige Drogenabhängige oder Menschen, die einen Strafmassnahmenvollzug hinter sich haben. Eine zeitliche Begrenzung der Aufenthaltsdauer gibt es nicht. Im Schnitt bleiben die meisten Bewohner drei Jahre im Haus. Es gibt aber auch solche Männer, die bereits 15 oder 20 Jahre das Haus Otmar ihr Zuhause nennen. Gesamthaft gibt es im Haus 26 Einzelzimmer – zurzeit sind nur noch fünf Zimmer frei. Natürlich leben die Bewohner hier nicht kostenlos. Je nach Selbständigkeit und Bedürfnissen der Bewohner gibt es zwei Preiskategorien: Die Miete für einen selbständigen Bewohner für ein möbliertes Zimmer und Frühstück liegt bei 900 Franken. Bewohner mit einem Unterstützungsbedarf bezahlen 1200 Franken. Für die restliche Verpflegung sind die Bewohner selbst verantwortlich.

Kein Heim, aber ein Zuhause

In der grossen Küche im Kellergeschoss riecht es stark nach Zigaretten. Ein Bewohner sitzt am langen Esstisch und schaut sich die «Tagesschau» an. Er kämmt sich mit seinen Fingerspitzen den langen grauen Bart. Er grüsst den Besuch freundlich. In der Luft liegt eine Gemüse-Bouillon, was darauf deutet, dass die Bewohner an diesem Abend eine Gemüse-Suppe gekocht haben.

Das Haus Otmar ist kein typisches Heim. Denn es gibt keinen strukturierten Tagesablauf oder ein gemeinschaftliches Programm. In diesem Sinne sind die Bewohner, wenn sie keiner Arbeit nachgehen, in ihrer Tagesgestaltung frei. Wenn sie eine spezielle Unterstützung brauchen, sind die Mitarbeiter da. Viele Bewohner würden bei der Wohnungssuche, beim Ausfüllen der Steuererklärung oder bei anderen amtlichen Formularen Hilfe benötigen. Obwohl die Bewohner frei in ihrem Alltag sind, gibt es Hausregeln, die befolgt werden müssen. Zwar dürfen Familienmitglieder Besuch empfangen – aber nur in den Aufenthaltsräumen und bis 22 Uhr. Im Haus herrscht ein absolutes Drogenverbot und es darf keine Gewalt angewendet werden. «Wer sich einen groben Fehler in unserer Pension leistet, der wird verwarnt oder muss gehen», sagt Krähenmann.

Selbsttragend – freuen sich aber über jede Spende

Am Abend ihrer ordentlichen Mitgliederversammlung besucht die FDP Regionalpartei Wil-Untertoggenburg das Haus Otmar. Die Parteimitglieder wollen eine Einblick in die Organisation bekommen und das Haus näher kennenlernen. Denn im Dezember sammelte die Regionalpartei mit den Jungfreisinnigen am Weihnachtsmarkt Spenden für einen guten Zweck. Heuer darf das Haus Otmar das gesammelte Geld entgegennehmen. So überreichen Susanna Hofmann, ehemalige Präsidentin der FDP-Regionalpartei Wil-Untertoggenburg, und Salome Zeintl, Präsidentin Jungfreisinnige Will und Umgebung, eine Spende von 750 Franken an den Verein.

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750 Franken für das Haus Otmar in Wil: Susanna Hofmann und Salome Zeintl (ganz rechts) übergeben den Verantwortlichen des Haus Otmar einen Spendencheck (Magdalena Ceak)

Sowohl die Stadt Wil als auch die katholische und evangelische Kirchgemeinde stehen hinter dem Verein und seinem sozialen Vorhaben. Auch von der Bevölkerung in der Region bekommt das Haus Otmar Unterstützung. Zwei Mal pro Woche kommt die St. Galler Tafel vorbei, die Lebensmittel von Grossverteilern und regionalen Produzenten bekommt, und schenkt den Bewohnern die Esswaren. Der Verein St. Otmarhaus ist eine Non-Profit-Organisation und selbsttragend. Aber bei grösseren Investitionen – beispielsweise einer Renovierung oder Anschaffung – ist der Verein auf Spendengelder angewiesen. «In den vergangenen Jahren sind wir mit den Spendengeldern gut zurechtgekommen. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft von aussen unterstützt werden», sagt Leiterin Krähenmann.