Dagmar Müller, Leiterin des Jugendheims, betonte, dass der erzieherische Auftrag vor 125 Jahren praktisch gleichlautend mit dem heutigen gewesen sei. Die zielführenden pädagogischen Vorstellungen und Massnahmen dagegen hätten sich gewandelt und seien gegenüber der Gründerzeit stark verändert. Angesichts des Leids, das mit der Platzierung von Jugendlichen im Heim oft verbunden sei, wollte die Heimleiterin nicht von einem Jubiläum sprechen. Es gebe aber gute Gründe, das langjährige Bestehen der Institution und den gewissenhaften Einsatz vieler Verantwortlicher zu würdigen.
Heimerziehung polarisiert
Der Platanenhof liegt im Zuständigkeitsbereich von Regierungsrat Fredy Fässler, Vorsteher des Sicherheits- und Justizdepartementes. Als «Jugendknast» empfänden ihn einige und dächten an Verbrecher und Kriminelle. Heute aber stünden Ausbildungsmöglichkeiten und damit Perspektiven für Jugendliche im Vordergrund. Die unterschiedliche Einstufung zeige, wie das Thema auch heute noch polarisiere, hielt Fredy Fässler fest. Die Geschichte der Fremdplatzierung von Jugendlichen werde heute zu Recht kritisch hinterfragt und erforscht. Die Art und Weise, wie heute in den Jugendheimen gearbeitet werde, habe sich grundlegend geändert. Das Leben von Jugendlichen in stationären Einrichtungen sei in der Öffentlichkeit aber wenig bekannt. Deshalb lädt der Platanenhof die Bevölkerung ein, am Samstag, 25. Mai einen Blick hinter die Mauern zu werfen.
Vergangenheit wird aufgearbeitet
Die Geschichte von Heimen, auch des Platanenhofs, weist auch Unrühmliches auf. Auch wenn manches aus dem jeweiligen Zeitgeist verständlich erscheint, so ist nicht alles entschuldbar. Die Auswirkungen von Erziehungsmethoden, die aus heutiger Sicht fremd oder gar unhaltbar erscheinen, verlangten eine Aufarbeitung, forderte Fredy Fässler. Der Platanenhof hat diesbezüglich ein vom Lotteriefonds unterstütztes Projekt lanciert. Die Historikerin Verena Rothenbühler ist beauftragt, sich einen gründlichen Einblick in die Geschichte des Jugendheimes zu verschaffen. Bis Ende Jahr soll ihre Publikation dazu vorliegen.

Besserungsanstalt für Knaben
Verena Rothenbühler zeichnete in ihrem Referat ein eher bedrückendes Bild der ersten Jahrzehnte des Platanenhofs. Schon der Name der 1894 gegründeten Institution «kantonale Besserungsanstalt für Knaben» habe heute einen Beigeschmack. Gegründet worden sei der Platanenhof von der Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons St. Gallen. Der Kanton habe eine Defizitgarantie geleistet. Am 1. Januar 1895 seien die ersten Zöglinge im Statthalterhaus in Oberuzwil eingezogen. Von den Jugendlichen, beziehungsweise von deren Eltern, sei damals ein Kostgeld verlangt worden.
Nach drei Jahrzehnten seien bereits 35 Jugendliche im Statthalterhaus untergebracht gewesen. Sogar der Estrich sei belegt worden. Aussagen von Jugendlichen fehlten in den ersten Jahrzehnten fast vollständig, führte die Historikerin aus. Die Protokolle der Betreuer machten es aber möglich, die Situation trotzdem nachzuzeichnen. Knaben seien rasch als verwahrlost eingestuft, den Eltern in der Folge die Erziehungsverantwortung entzogen und die Jugendlichen ins Heim eingewiesen worden.
Eingesperrt bei Wasser und Brot
Die Hausordnung von damals legte den Tagesablauf strikt fest: Aufstehen im Sommer um 5 Uhr, im Winter um 6 Uhr. Nachtruhe im Sommer um 21.30 Uhr, im Winter um 21 Uhr. Die Arbeitszeiten – für die meisten auf dem Bauernhof – waren lang. Unangepasstes Verhalten hatte harte Disziplinarstrafen zur Folge. Die Strafen reichten von einem Verweis bis zu 14 Tagen Isolierhaft in einer Zelle. Arbeit und die Religion sollten die Jugendlichen wieder auf den rechten Weg bringen.
Neubauten und Lehrbetriebe
In den 1930er-Jahren sei ein grosser Wandel erfolgt. Es sind Neubauten und Lehrbetriebe realisiert worden. Das Arbeiten in der Landwirtschaft verlor an Bedeutung. Es wurde möglich, eine Lehre als Schuhmacher, als Schreiner, als Schneider oder als Gärtner zu machen. Der Begriff Erziehungsheim löste die Besserungsanstalt ab, später wurde er durch Jugendheim Platanenhof ersetzt.
Die einsetzende Kritik an Heimen führte schliesslich zu schrittweisen Reformen. Heute ist man sich bewusst, dass ein ständiges Überdenken des Handelns nötig ist. In diesem Sinne waren am Nachmittag Referate von Fachpersonen und Diskussionen dazu angesetzt.