Dem Aufbau unseres Staatswesens entsprechend kamen an der öffentlichen Wahlfeier in der Stadtkirche Wil je ein Vertreter der Gemeinde-, der Kantons- und der Bundesebene zum Wort. Den Reigen eröffnete der Wiler Stadtpfarrer Roman Giger, gefolgt von Fredy Fässler, dem Präsidenten des St. Galler Regierungsrates, und Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Abschliessend bedankte sich Karin Keller-Sutter für die Würdigungen und die guten Wünsche ins Präsidialjahr.Die Kirche vermochte die vielen Menschen kaum zu fassen. Neben der politischen Prominenz aus Bern, St. Gallen und Wil, aus Kirche und Armee wollten sich auch zahlreiche Bürger aus Wil und Umgebung die Feier nicht entgehen lassen.
Pfarrei Wil pflegt die Kultur
Der «Hausherr», der Wiler Stadtpfarrer Roman Giger, gab seiner Freude Ausdruck, dass die neue Ständeratspräsidentin die Stadtkirche St. Nikolaus als Ort der Feier gewählt habe. Karin Keller-Sutter sei der Pfarrei und ihm seit Jahren freundschaftlich verbunden. Einer Pfarrei, welcher die Pflege der Kultur sehr wichtig sei. So gibt es den Kirchenchor St. Nikolaus seit gut 300 Jahren. Er ist damit einer der ältesten Chöre der Schweiz überhaupt.
Die musikalische Umrahmung der Feier lag bei der Singbox. Es ist die pfarreieigene Singschule. Vor zehn Jahren habe man mit sieben Kindern begonnen. Heute wirkten 60 Kinder und Jugendliche mit, stellte Roman Giger mit Genugtuung fest.
Lob an die Vorgängerin
Fredy Fässler, Präsident des Regierungsrates des Kantons St. Gallen und Vorsteher des Sicherheits- und Justizdepartementes, hat dieses Departement von Karin Keller-Sutter übernommen. Er zollte ihr, die dieses Departement während zwölf Jahren geleitet hat, hohe Anerkennung. Sie habe sich insbesondere in den Bereichen «häusliche Gewalt» und «Hooliganismus» schweizweit viel Anerkennung und Respekt verschafft. Ausserdem sei er froh, dass er von ihr ein sehr gut geführtes Departement habe übernehmen können.
«Freiheit prägt deine Politik»
Nachdem Fredy Fässler die Ständeratspräsidentin als Fürsprecherin für die Anliegen des Kantons St. Gallen und für die föderale Schweiz gewürdigt hatte, attestierte er ihr, dass Freiheit gepaart mit Selbstverantwortung und Solidarität ihre bisherige politische Arbeit geprägt habe. Ihren Freiheitsdrang bereits als Jugendliche illustrierte er mit einer Anekdote. Die Wiler Fasnachtsteufel seien zwar den Buben vorbehalten gewesen. Das aber habe Karin nicht am Mitmachen gehindert. Allerdings habe sie die Maske nicht vor den Buben abziehen können, um sich nicht im wörtlichen Sinne zu entlarven.
Durch «Rivalität» verbunden
Seine humorvolle Laudatio begann Bundesrat Johann Schneider-Ammann mit der Feststellung, dass er mit Karin Keller-Sutter durch eine gewisse Rivalität verbunden sei. Damit sprach er die Situation an, dass Karin Keller-Sutter bei seiner Wahl in den Bundesrat als Mitbewerberin nur knapp unterlegen war. Natürlich unterliess er es auch nicht, Karin Keller-Sutters Chancen bei seinem eigenen Rücktritt anzusprechen. Dabei führte er die gut schweizerische Erfahrung an: «Wer seinen Kopf zu früh herausstreckt, wird zurückgestutzt».
Fragen der Perspektive
Wenn die Ostschweiz als Randregion bezeichnet werde, habe Karin Keller-Sutter die passende Antwort, führte der Bundesrat aus. Gemäss ihrem Motto der Feier, dass alles eine Frage der Perspektive sei, habe die Ständeratspräsidentin festgestellt, dass die Ostschweiz im Zentrum des prosperierenden Dreiecks München-Stuttgart-Mailand liege.
Johann Schneider-Ammann wies auf die gemeinsame Liebe zu Hunden hin. Beide seien sie begeisterte Hundehalter, sie von einem, er von vier Vierbeinern, und wüssten die bedingungslose Anhänglichkeit ihrer Begleiter zu schätzen.
Der bundesrätliche Redner würdigte auch Karin Keller-Sutters Engagement, verbindend zu wirken. Ihre Zusammenarbeit mit ihrem SP-Ständeratskollegen Paul Rechsteiner bezeichnete er augenzwinkernd als «gelebte Sozialpartnerschaft».
Schliesslich wies er darauf hin, dass von den vier Ständeratspräsidentinnen seit der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahre 1972 zwei aus der Ostschweiz kämen. Vor acht Jahren war Karin Keller-Sutters Parteikollegin Erika Forster diese hohe Ehre zugefallen.
«Alles ist uns auf Zeit gegeben»
Die neue Ständeratspräsidentin gab ihrer Freude über die Würdigung ihrer Leistungen Ausdruck und bedankte sich dafür. Dann folgten besinnliche Worte. In der Stadtkirche sei sie getauft worden – und hier werde wahrscheinlich auch einmal ihre Abdankungsfeier stattfinden. Ohne schwermütig zu werden, müsse man sich bewusst sein, dass alles, was wir hätten, uns nur auf Zeit gegeben sei. Im Besonderen treffe dies auch auf das auf ein Jahr befristete Amt des Ständeratspräsidiums zu. Doch das sei gut so. Diese Regelung diene der Stabilität und der Machtteilung.
Lob der Vielfalt des Kantons
Mit dem Weg des Sonderzugs durch das Gebiet ennet des Rickens und durchs Toggenburg in die Äbtestadt habe sie den Gästen aus Bern die Vielfalt des Kantons St. Gallen zeigen wollen. Mit einem Zitat von Gottfried Keller «Ei, was wimmelt da für verschiedenes Volk in engem Raum» kam sie auf die Charakterisierung des St. Gallers. Die ihn verbindende Eigenschaft sei «brötig», ein schwer zu übersetzender Begriff. Am ehesten lasse er sich mit zurückhaltend, etwas spröde, um Korrektheit bemüht umschreiben. Wer sein Vertrauen gewinne, erlebe ihn aber als liebenswürdig.
Dass Wilerinnen und Wiler aber auch durchaus aufmüpfig sein können, zeigte sie am Beispiel der vor 50 Jahren erfolgten Stürmung des Schwimmbades durch die Frauen. Damit erreichten sie, dass im öffentlichen Schwimmbad gemeinsames Baden von Frauen und Männern erlaubt wurde.












