Wenn man an Wiler Spezialitäten denkt, ist meistens der Mandelfisch gemeint. Eine weitere Wiler Besonderheit ist in Vergessenheit geraten: Bis ins 19. Jahrhundert wurde der Brauch des Pankratius-Weins gepflegt. Es war nicht irgendein Trunk, es war ein geweihter Wein. Seine Segnung erhielt er durch das Eintauchen eines Zahns Reliquie des Heiligen. Er und dieser besondere Wein sorgten dafür, dass auf Linderung ihrer Leiden hoffende Pilger aus Süddeutschland und von anderswo nach Wil kamen.
Doch wie gelangten die Gebeine eines Heiligen aus Rom überhaupt ins damalige Städtchen Wil? Wie ein Tornado fegte die Reformation ab 1517 viele Gotteshäuser in Europa leer. In der als «Bildersturm» in die Geschichte eingegangene Zeit wurden viele religiöse Stauten und Bilder zerstört. Sie sollten die Gläubigen nicht weiter von der direkten Beziehung zu Gott ablenken. Im Gegenzug beschlossen die Kirchenführer am Konzil von Trient 1545 den katholischen Glauben gegen die reformatorische Revolution zu verteidigen. Dieser Prozess nennen die Historiker die Gegenreformation. Sie führte schliesslich zum Dreissigjährigen Krieg, der Elend über weite Teile Europas brachte. Bei der Reformation und der Gegenreformation ging es nicht nur um Glaubensfragen, sondern auch um die Machtverteilung in Europa sowie um erhebliche materielle Interessen. Sie führten zu Gemetzel, Plünderungen und Hungerelend auf dem Kontinent.
Mutmassliche Märtyrergräber
In der Zeit der religiösen Wirren wurden in Rom um 1578 in den Katakomben Gräbnisstätten entdeckt. Viele dieser Gebeine hielt man für Reliquien von Märtyrern, weil auf ihren Grabplatten ein Christuszeichen sowie ein Palmzweig eingemeisselt waren. In den nach dem Bildersturm schmucklosen Gotteshäusern war der Bedarf an neuen Symbolen für den katholischen Glauben gross. In der Folge kamen «150 heilige Leiber» in die Schweiz. Von ihnen erwarten die Gläubigen eine wundertätige Wirkung. Sie gelten als Tempel des heiligen Geistes.
Papst Clemens X. schenkte 30 von ihnen der Fürstabtei St. Gallen. Der damalige Fürstabt Gallus II. liess dabei die mutmasslichen Gebeine des heiligen Pankratius 1672 nach Wil verbringen, wo sie mit einer grossen Feier empfangen wurden. Das entsprechende Skelett steht heute in einer Nische im rechten Seitenschiff der St. Nikolauskirche, gefasst in eine wertvolle Gold- und Silberschmiedearbeit im Rokokostil. Sie wurden zur Hundertjahrfeier der Ankunft in Wil von einem Augsburger Goldschmied ausgeführt. Die Gebeine sind in eine Rüstung eines römischen Soldaten eingefasst. Sie soll veranschaulichen, dass Pankratius als Soldat Gottes für seinen Glauben kämpfte und starb. Gemäss altem Brauch soll seine Reliquie alle 50 Jahre feierlich durch die Stadt getragen werden.




Rätsel um heiligen Namensvetter
Etwas verwirrend ist, dass auch in einer Kirche in Rom sowie auf dem Berg Athos Knochen des Heiligen Pankratius liegen. Sie sollen von einem weiteren Märtyerer gleichen Namens stammen. Der Legende nach kam er in Antiochia im damaligen Syrien zur Welt. Heute heisst die Stadt Antakya und liegt auf türkischem Staatsgebiet. Dieser Pankratius soll in Jerusalem Jesus begegnet sein. Später liess er sich taufen und wurde von Paulus nach Taormina auf Sizilien gesandt, wo er der erste Bischof wurde. Er wurde wegen seines Glaubens um 40 nach Chr gesteinigt. Ob es diese Person je gegeben hat, ist umstritten, denn die historischen Quellen weisen erhebliche Widersprüche auf.
Gemäss Ortsbürgerrat Ruedi Schär soll es auch in Österreich Reliquien eines Heiligen Pankratius geben. Schär betont jedoch: «Für den Wiler liegt eine schriftliche Bestätigung des Papstes vor, dass es sich um die authentischen Gebeine des Pankratius handelt.»
Schädel verschwunden
Der hiesige Heilige soll im Jahr 290 in der heutigen Türkei als Sohn eines reichen Römers zur Welt gekommen sein. Er wurde früh Waise und übersiedelte 303 mit seinem Onkel nach Rom. Mit seinem grossen Erbe half er dort den verfolgten Christen. Schliesslich wurde er um 304 wegen seines Glaubens hingerichtet und sein Leichnam den Hunden zum Frass vorgeworfen. Weil er wegen seines Glaubens starb, gilt er als Märtyerer. Der damals amtierende römische Kaiser Diokletians bot Pankraz an, ihn am Leben zu lassen und ihn wie einen eigenen Sohn zu halten, wenn er vom christlichen Glauben ablasse. Der 14-Jährige entgegnete ihm gemäss der Legende: «Bin ich auch des Leibes ein Kind, so hab ich doch ein alt weises Herze, und aus der Kraft meines Herrn Jesu Christi gilt mir dein Drohen so wenig, als das Bild, das da vor uns an der Wand ist gemalet. Aber die Götter, die du mich anbeten heissest, waren Betrüger und schändeten ihre leiblichen Schwestern, ja sie schonten ihrer Eltern nicht. Wäre heute einer deiner Diener also böse, du hiessest ihn auf der Stelle töten. Schämst du dich nicht, dass du die für deine Götter ehrest?»
Ende August 1989 war der Schädel des Skelettes in der Stadtkirche plötzlich verschwunden. Wochen später hing er in einem Plastiksack an der Türklinke des Pfarrhauses. «Man hat nie herausgefunden, wer den Schädel entwendet hat», sagt Ruedi Schär. Es liegt nahe, dass er innerhalb eines mystischen Kultes eingesetzt wurde.
Unbekannter Soldat
Die Figur des Heiligen in Stein steht auch auf der Säule in der Mitte des Pankratiusbrunnens an der Seite des Hofplatzes. Das Original thronte einst auf dem Pankratiustor, das am oberen Ende der heutigen Oberen Bahnhofstrasse stand. Weil viele Menschen nicht wussten, wen die vom Wiler Bildhauer Eduard Bick 1922 geschaffene Skulptur darstellt, wurde sie oft als «unbekannter Krieger» bezeichnet. Die heutige Figur ist eine Kopie der ursprünglichen, jene wurde bröckelig und musste ersetzt werden.
Manche Quellen zählen den Wiler Pankratius (12. Mai) zu den Eisheiligen, andere stellen dies in Abrede. So oder so: Eine Bauernregel besagt: Wenn’s an Pankratius gefriert, so wird im Garten viel ruiniert.


