Im Gegensatz zu heute war die Wiler Altstadt nicht immer ein Vorzeige-Bijou: «Die Oberstadt entwickelte sich immer mehr zu einem Wohnquartier für ärmere und ältere Menschen, die in den oft baufälligen Häusern blieben», schreiben Verena Rothenbühler und Oliver Schneider in der 2020 erschienenen Wiler Stadtchronik. Sie beziehen sich auf die Zeit vor rund 50 Jahren. Laut den beiden Historikern zogen damals vor allem Gastarbeiter in die preisgünstigen Zimmer und Wohnungen im historischen Quartier von Wil.

Eine neue Zeit

Rund hundertfünfzig Jahre früher setzte die Entwicklung ein, in deren Verlauf die Altstadt ihre ursprüngliche Funktion als gesellschaftliches und wirtschaftliches Zentrum der Stadt einbüsste. Am 28. September 1855 kündigten um 12 Uhr mittags Kanonenschüsse ein neues Zeitalter an. «Fortschritt ist der Ruf der Zeit, Freue sich wer ihn vernommen», war auf einem Ehrenbogen zu lesen.

Hochrangige Vertreter der Kantone St. Gallen, Thurgau und Zürich waren in Wil zugegen, als sich erstmals eine Lokomotive Richtung Winterthur in Bewegung setzte. Die Eisenbahn war damals mehr als nur ein Transportmittel, schreiben Verena Rothenbühler und Oliver Schneider, sie war «Verheissung für eine bessere Zukunft».

Handelswege 

Bereits zwanzig Jahre zuvor eröffnete sich für Wil eine neue Perspektive: Auf Empfehlung des damaligen St. Galler Kantonsingenieurs Alois Negrelli wurden die mittelalterlichen Stadtmauern sowie die Stadttore abgebrochen. Zudem wurden die steilen Zufahrten zur Altstadt abgesenkt und damit der Zugang erleichtert. Auf diese Weise sollte Wil nicht von den Handelswegen abgeschnitten werden.

Post inside
Verena Rothenbühler und Oliver Schneider:  «Die Oberstadt entwickelte sich immer mehr zu einem Wohnquartier für ärmere und ältere Menschen, die in den oft baufälligen Häusern blieben»  (Foto: wilnet) 


Neues Lebensgefühl

Laut Rothenbühler und Schneider leitet diese sogenannte Strassenkorrektion von 1833/34 eine neue Phase in der Entwicklung ein. Während Jahrhunderten wurde zuvor nur innerhalb der Stadtmauern gebaut. «Mit der Einebnung entstand attraktives Bauland in unmittelbarer Stadtnähe, auf dem sich Bürgertum wirtschaftlich und architektonisch verwirklichen konnte.»

Durch das Schleifen der Stadtbefestigung verändert sich laut den beiden Geschichtskundigen das Leben der Einwohner. «Die engen Gassen der mittelalterlichen Stadt waren der breiten und zum Flanieren einladenden Winterthurerstrasse gewichen.» Aus ihr entwickelte sich um die Wende ins 20. Jahrhundert die Obere Bahnhofstrasse.

Post inside
So sah die heutige Obere Bahnhofsstrasse im 19. Jahrhundert aus. (Bild: wilnet) 

«Die Schleifung der Stadtmauern und die neuen Verkehrsverbindungen lösten in Wil und in anderen Städten eine Wachstumsphase aus», halten Rothenbühler und Schneider fest. «Mit Zuwachsraten von zeitweise über vierzig Prozent innerhalb eines Jahrzehnts gehörte Wil damals zu den wachstumsstärksten Gemeinden innerhalb des Kantons St. Gallen. In Wil wuchs die Einwohnerzahl zwischen 1830 und 1914 von gut 1000 auf über 7000 an.»

Mangel an Wohnungen

Im Wirtschaftsaufschwung nach dem 2. Weltkrieg erlebte Wil erneut einen Zustrom an Neuzuzügern. Zwischen 1951 und 1962 entstanden gemäss der Wiler Chronik 1140 neue Wohneinheiten, trotzdem gab es kaum freie Wohnungen.

Post inside
In den 1960er Jahren waren Hochhäuser die Antwort auf den Wohnungsmangel in Wil. (Foto Adrian Zeller) 

Die Antwort auf diese Herausforderung waren Hochhäuser, die damals als innovativ galten. Im Sommer 1961 konnte ein erstes zehnstöckiges Hochhaus an der Hubstrasse besichtigt werden. «Während die einen den neuen Baustil begeistert begrüssten, schimpften andere über die Hochhäuser, die für sie eine Konkurrenz zu den Kirchtürmen darstellten», schreiben Rothenbühler und Schneider.

Funktionsbereiche in der Stadt

1957 gab der Gemeinderat von Wil beim Architekten und Landesplaner Hans Aregger einen neuen Bau- und Zonenplan in Auftrag. Die Vorgabe des Gemeinderates lautete unter anderem, wirksame Akzente zu schaffen, die der wachsenden Bedeutung von Wil als regionales Zentrum und seiner unverkennbar städtischer werdenden Entwicklung Rechnung trage.

In der Expertise wurde eine Trennung in verschiedene Funktionszonen vorgeschlagen: Arbeiten, Wohnen, Verkehr und Erholung.

Ab den sechziger Jahren wurden die Menschen mobiler, sie konnten sich Autos leisten. Damit wurden weitere Wege zum Arbeiten und zum Einkaufen möglich. Allmählich entstanden Wohnquartiere in Randbereichen und in Vorortgemeinden. Auch Supermärkte mit grossen Parkflächen wurden vor den Städten errichtet. «Die grossen Einkaufszentren, die nicht nur mit dem Zug, sondern auch mit dem Auto bequem zu erreichen waren, entsprachen dem modernen Konsumverhalten», schreiben Rothenbühler und Schneider.

Post inside
Im Jahr 1963 war der Hang des Hofbergs noch kaum verbaut, danach dehnte sich die Stadt immer mehr in der Fläche aus.  (Foto: wilnet) 

Das Alltagsleben spielte sich in immer mehr Fläche ab. Die erwähnte funktionelle Aufteilung von verschiedenen Lebensbereichen bewirkte zum Teil eine Verödung der Innenstädte sowie eine Zersiedlung in den Aussenquartieren. Diese Entwicklung zeigte sich in den USA sehr ausgeprägt.

Bindung ans Quartier

In Nordamerika entstand vor rund 30 Jahren eine Gegenbewegung; sie hat mittlerweile in vielen Ländern Anhänger. Sie erkannte die Nachteile der Zersiedlung: hohe Kosten für Strassenbau und die Infrastruktur, erheblicher Verbrauch an Ressourcen sowie Anonymität in den Quartieren. Das Gegenmodell erkannten die Exponenten der Bewegung in historisch gewachsenen Altstädten. In ihnen sind Funktionen wie Arbeit, Wohnen und Freizeit in Nachbarschaft.

Die Vertreter des «New Urbanism», wie sich diese Denkweise nennt, geht davon aus, dass entsprechende Wohnformen die Art des Zusammenlebens beeinflusst. In Siedlungen im strukturellen Prinzip einer Altstadt können das gegenseitige Kennenlernen fördern und gleichzeitig präventiv gegen Einbrüche und andere Delikte schützen, weil die eigene Umgebung belebt und überschaubar ist.

Der Verbrauch an Ressourcen wird reduziert, weil Dinge des täglichen Lebens, wie etwa der Besuch einer Apotheke, einer Arzt- oder Physiotherapiepraxis, einer Bäckerei, eines Cafés, eines Coiffeursalons, eines Blumenladens, eines Fitnessstudios, eines Schwimmbads oder einer Kita in zehn Minuten Distanz zu Fuss oder per Velo erreichbar sind.

Post inside
Einkaufsorte fördern das Sozialleben. (Archivfoto: Adrian Zeller) 

Sitzbänke, Pflanzentröge und kleine Parks sorgen für eine erhöhte Aufenthaltsqualität. Es soll eine emotionale Bindung der Bewohner zu ihrem Quartier gefördert werden. Die Wohnungen sind unterschiedlich gross, damit ist für eine soziale Durchmischung gesorgt.

In Schweden, in den Niederlanden, in Grossbritannien sowie in weiteren Ländern wurden Siedlungen im Stil des «New Urbanism» gebaut.

Vielfalt gefällt

Ansatzweise ist diese Form der Bebauung in der Siedlung <Neualtwil> umgesetzt. Wie der Quartiername sagt, haben sich die Architekten die Wiler Altstadt zu Vorbild genommen. Wie im historischen Stadtkern der Äbtestadt, sind die einzelnen Häuser in Neualtwil in ihrer Farbgebung und in ihrer Konstruktion unterschiedlich gestaltet. Plätze, Treppen und Durchgänge sorgen für abwechslungsreiche Struktur.

Post inside
Im Quartier Neualtwil sind Ideen des New Urbanism teilweise verwirklicht. (Archivfoto: Adrian Zeller)

Diese Art des Bauens entspricht den Erkenntnissen der Urban Psychologie, sie beschäftigt sich mit der Befindlichkeit von Menschen im städtischen Raum. Quartiere werden als angenehm wahrgenommen, wenn sie in ihrer Beschaffenheit vielfältig und detailreich sind. Im Gegensatz dazu fühlen sich Menschen in monotonen Anordnungen nicht sehr wohl. Sie fördern die Anonymität und wirken dem Sozialleben entgegen.