Der Donnerstags-Gesellschaft Oberuzwil unter ihrem Präsidenten Thomas Rhyner ist es ein grosses Anliegen, die Lebensweise dieser anerkannten Minderheit – Jenische und Sinti, aber auch Roma sind das in der Schweiz – sichtbar zu machen und mit Menschen aus dieser Bevölkerungsgruppe in einen Dialog zu treten. Im Mai begann der Verein sein Jahresprogramm mit einem Auftritt der Musikgruppe „Musique Simili“, welche mit ihrem Stück „Zu Besuch im Café Rother Igel“ im Kulturlokal der Alten Gerbi begeisterte.

Es ist vor allem die Musik, welche eine Brücke von der Mehrheitsgesellschaft zu diesen Minderheiten schlägt. Mit der Ausstellung in der Unterkirche wurde diese Sichtbarmachung nochmals auf mehr verstandesmässiger Ebene unterstrichen. 

Gespräch mit dem Präsidenten der Radgenossenschaft

Daniel Huber ist Präsident der Schweizerischen Radgenossenschaft der Fahrenden. Er stellte sich den Fragen der Zuhörern. Die grösste Sorge für seine Leute sind die fehlenden Stamm- und Durchgangsplätze. Obwohl verfassungsmässig vorgeschrieben, ist es oft kaum möglich, die Bevölkerung zu einem Ja für einen Stammplatz in ihrer Gemeinde zu gewinnen. Als Folge davon müssen viele Fahrende immer wieder einen neuen Platz für kurze Zeit suchen, was eine gewisse Integration in die heimische Gesellschaft kaum erleichtert. Auch die Frage nach dem Lebensunterhalt einer solchen Gemeinschaft interessierte. Huber unterstrich, dass alle hier Steuern zahlen, Militärdienst leisten und auch sonst alle Auflagen der Behörden erfüllten. Und er betonte: "Wir sind Menschen genau wie ihr."


Unmenschliche Praxis

Es läuft einem kalt den Rücken hinunter, wenn man Berichte über die Zeiten liest, als es noch gang und gäbe war, fahrenden Familien ihre Kinder wegzunehmen, um diese vor dem „Vagantentum“ zu schützen. Der Verein Pro Juventute tat sich in dieser Hinsicht besonders hervor. Noch mehr bekommt man das Grausen, wenn man liest, welch doch eher zwielichtige Persönlichkeiten diese Wegnahmen in die Wege leiteten. Ein Name fällt da besonders auf: Alfred Siegfried. Er gründete das Hilfswerk mit dem zynischen Namen „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“. Er war viele Jahre lang Leiter der Pro Juventute, obwohl er vor seiner Anstellung in Basel wegen „Unzucht mit einem Kinde“ verurteilt worden war. 

Missbrauch war denn auch ein Schicksal, welches viele Kinder von Fahrenden erleben mussten. Man wollte wenigstens die Kinder sesshaft machen, schuf mit dieser Praxis jedoch unendlich viel Leid. Pro Juventute hat diese Zeit sehr gut aufgearbeitet und stellt sich auf ihrer Homepage auch diesem betrüblichen Kapitel Institutionsgeschichte. Pro Juventute

Es gab Zeiten, da war es gang und gäbe, fahrenden Familien ihre Kinder wegzunehmen, um diese vor dem „Vagantentum“ zu schützen. Am 15. April 1972 gab es im Beobachter einen Artikel mit dem Titel „Fahrende Mütter klagen an“. Der Journalist glaube zwei Müttern, die sich bitter über die Wegnahme ihrer Kinder beklagten und hier endlich Gehör fanden. Bei den Ämtern waren sie bis anhin an eine Wand gestossen. Unterdessen ist das Unrechtsbewusstsein gewachsen und von behördlicher Seite eine Entschuldigung an die Gemeinschaft ausgesprochen worden. Unwort „Administrativ versorgt“ 

Die „Philosophie“ dahinter

Bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhundert war man sich in der Gesellschaft einig, dass Fahrende einen liederlichen Lebenswandel führten, eigentliche „Vaganten“ seien. Mit dem Herausreissen der Kinder aus diesen Familien wollte man „das Übel an der Wurzel packen“ und diese Lebensweise ausrotten. Fast wäre es den Behörden auch gelungen, denn um 1970 waren Kultur und Sprache fast gänzlich verschwunden. Die Disziplinierung dieser freiheitsliebenden Menschen war allerdings dennoch nicht erfolgreich. Die Wegnahmen waren damals gesellschaftlich akzeptiert, brachten aber viel Leid in die betroffenen Familien. Lange war der Begriff „Zigeuner“ denn auch abwertend gemeint. Heute bezeichnen sich jedoch wieder verschiedene dieser Volksgruppen stolz als Zigeuner, „fahrend“ ist allerdings nur noch ein kleiner Teil. 

Rund die Hälfte der weggenommenen Kinder stammte aus dem Kanton Graubünden. Auch in den Kantonen Tessin, St. Gallen und Schwyz wurden viele Kinder so „versorgt“. Diese Kinder wurden als billige Arbeitskräfte benutzt, bekamen kaum Zugang zu Bildung und blieben so ihr Leben lang arm und verachtet. Viele waren auch Gewalt und Missbrauch ausgeliefert, hatten ja keine Lobby. Heute gehören ungefähr 35‘000 Personen zu diesen Volksgruppen, davon sind nur ungefähr 3000 wirklich „fahrend“, die andern „wohnen“. 

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Silvio Gemperle umrahmte diesmal die Veranstaltung mit heimischen Klängen. Das Quartett "Musique Simili" hatte bereits im Mai zur Eröffnung des Vereinsjahrs mit seiner faszinierenden Musik einen lebhaften Eindruck hinterlassen.


Feuer als hohes Kulturgut

Viele Sinti, Roma oder Jenische trauen sich auch heute nicht, ihre Volkszugehörigkeit öffentlich zu machen. Zu gross sind die Vorurteile in der Mehrheitsgesellschaft. Man verdächtigt sie, unsauber, arbeitsscheu und diebisch zu sein. Weil man ihre Lebensweise kaum kennt, diese Menschen etwas anders aussehen und ihre Berufe kein hohes Ansehen haben, leben sie abgeschirmt am Rand der Gesellschaft. Laut Daniel Huber sind Jenische und andere Fahrende wahre Überlebenskünstler, daneben genügsam, was Lebensweise und Platzbedarf angeht. 

Ein hohes Kulturgut der Fahrenden ist das offene Feuer. Dort findet ein grosser Teil ihres gesellschaftlichen Lebens statt. In einem offenen Brief hat die Radgenossenschaft 2017 an alle Kantonsregierungen appelliert, das Verbot von offenem Feuer aus ihren Reglementen herauszunehmen. Für Fahrende sei der sorgsame Umgang mit offenem Feuern seit Jahrhunderten ein wichtiges Anliegen. Radgenossenschaft der Landstrasse

Rolle der Frau

Noch heute gibt es gerade unter den fahrenden Frauen viele, die von fürsorgerischen Massnahmen betroffen waren. Einige von ihnen haben sich zu Wortführerinnen entwickelt. Hinter den Kulissen sind es zudem vielfach diese Frauen, die die Familie zusammenhalten und die Werte weitergeben. Das Familienleben hat einen hohen Stellenwert. Das Familienleben findet auf kleinstem Raum statt. In der Öffentlichkeit sind jedoch die Männer sehr viel sichtbarer. Typische Berufe der Fahrenden sind Scherenschleifen, Pfannenflicken, aber auch Altmetallhandel oder künstlerische Laufbahnen als Zirkusleute oder Musiker. Berufe von Fahrenden

In Wil findet im Hof in diesen Tagen ebenfalls eine Wanderausstellung mit dem Titel „Latscho Diwes: Sinti, die unbekannteste Minderheit der Schweiz“ statt.