Klassische Musik klingt aus den Lautsprechern. In der Eishalle des Wiler Sportparks Bergholz ist es kalt. Sehr kalt. An diesem Donnerstagabend trainieren etwa ein Dutzend Läuferinnen auf dem Eisfeld. Eine 12-Jährige übt gerade ihre Kür. Es sieht so aus, als würde das Mädchen über das Eis schweben. Ihre kunstvolle Aufführung mit Schritten, Sprüngen und Pirouetten zieht die Blicke der wenigen Zuschauer – alles Eltern der Eisläuferinnen – auf sich. Ein «Oohh» tönt aus der Zuschauerreihe. Die junge Läuferin stürzt nach einem Sprung. Steht aber binnen Sekunden wieder auf und gleitet elegant auf ihren Kufen weiter. Sie lächelt, als wäre nichts gewesen. Und schon gelingt der nächste Sprung.
Seit ihrem dritten Lebensjahr steht Carla Scherrer auf dem Eis. Von Anfang an hat ihr das Laufen auf dem Eis gefallen. «Ganz genau kann ich mich nicht mehr erinnern», sagt Carla Scherrer, «ich weiss nur, dass es mir unheimlich viel Spass gemacht hat.» Seither besucht sie in der Wintersaison regelmässig verschiedene Eisfelder. «Je älter ich wurde, desto mehr Zeit wollte ich auf dem Eis verbringen», so die 12-Jährige. Ein richtiges Training auf dem Eis und ein Verein haben sie irgendwann interessiert. «Am Eiskunstlaufen fasziniert mich, dass man sich immer weiter steigern kann.» Aber auch das harte Arbeiten an der Technik gefällt ihr. Und die eleganten Bewegungen. «Und natürlich gefallen mir auch die hübschen Glitzerkleider.» Carla Scherrer lacht. Leicht verlegen. So wie es Mädchen in ihrem Alter tun, wenn sie etwas Persönliches verraten. Dann packt sie ihre braunen langen Haare, die sie mit einem dicken Gummiband zusammengebunden hat, und kämmt sie mit ihren Fingern.
Pendeln zwischen Sargans und Wil
45 Minuten vor dem Training. Carla Scherrer und ihre ältere Schwester Lina stürmen in die Umkleidekabine. Weil sie im Stau standen, sind die beiden Mädchen spät dran. In wenigen Minuten beginnt das Training von Lina Scherrer, die in einem tieferen Niveau auf dem Eis läuft. Für ihre grosse Leidenschaft pendeln die beiden Schwestern von ihrem Wohnort Sargans nach Wil. Vier Mal in der Woche. Manchmal können sie aber auch in Uzwil oder St. Gallen trainieren. Weil der Anfahrtsweg etwa eine Stunde dauert und es nach dem Abendtraining teilweise ziemlich spät wird, werden die beiden Eisläuferinnen von ihrer Mutter Rebekka Scherrer gefahren.
«Ich bin so froh und dankbar, dass meine Mama das für uns macht», so Carla Scherrer. Sie lächelt und blickt zu ihrer Mutter. Diese winkt etwas verlegen ab. «Meine Mädchen sind glücklich auf dem Eis und deshalb möchte ich sie unterstützen», sagt Rebekka Scherrer. Tochter und Mama sitzen im Restaurant des Sportparks Bergholz nebeneinander. «Übrigens geniesse ich diese Zeit mit meinen Töchtern», führt die Mutter weiter aus. Seit vergangenen September würden sie nun pendeln. In der Region, in der sie wohnen, habe es kein Angebot, das den Mädchen ein solch intensives Training bietet. «Carla hat Trainings in Sargans, Feldkirch und Widnau absolviert. Je besser sie wurde, desto mehr wollte sie trainieren», erzählt Rebekka Scherrer. Viele Eishallen und Vereine würden nicht ein tägliches Training ermöglichen und über den Sommer eine längere Pause machen. Das sei auf dem Niveau, in dem ihre Töchter auf dem Eis stehen, nicht förderlich. Carla Scherrer hat kürzlich die Tests der Schweizer Eislauf-Verbandes für die Niveaus Bronze und Intersilber bestanden. «Mit diesem bestandenen Test ist sie in der kommenden Saison zur Teilnahme an den Swiss Cups in der Kategorie Jugend berechtigt», sagt Sandra Schittli, Präsidentin ELC Wil. Carla Scherrer gehöre mittlerweile zu den 40 besten Läuferinnen ihrer Alterskategorie und könne im Jahr 2020 an der Schweizer Meisterschaft in der Kategorie Jugend teilnehmen. «Ja, seit sie hier in Wil trainiert, ist sie einen grossen Sprung weitergekommen», so Rebekka Scherrer.

«Die weite Reise lohnt sich also», betont Carla Scherrer. In den vergangenen Monaten habe sie viel gelernt «und von den erfahrenen Trainern in Wil profitiert». Allen voran stehe für sie Daniel Fürer, Trainer des ELC Wil. «Er motiviert mich so sehr und weiss, wo meine Stärken sowie Schwächen liegen.» Sie hat aber nicht nur an Erfahrung auf dem Eisfeld gewonnen, in den vergangenen Wochen konnte sich die Zwölfjährige auch an diversen Wettkämpfen beweisen. «Noch im letzten Sommer gehörte ich den hinteren Rängen an, doch seither ergatterte ich mir einen Platz in den ersten fünf Rängen», sagt das Nachwuchstalent.
Wettkampf statt Schaulaufen
Die ein Dutzend fortgeschrittenen Eisläuferinnen – alle haben Interbronze, Bronze, Intersilber oder Silber bereits erreicht – haben sich längst aufgewärmt. Jede hat einmal ihre Kür auf dem Eis gezeigt. Nun wird für den Gruppenlauf, der am Schaulaufen «Wil on Ice» am Freitag (15. März) gezeigt wird, trainiert. Die Mädchen strecken die Köpfe zusammen, verfeinern ihre Tanzschritte und verbessern einzelne Bewegungen.
Carla Scherrer gehört mittlerweile zu den besten Eisläuferinnen des ELC Wil. Und so hat auch sie ihren Platz bei der Show «Wil on Ice». Doch an diesem Donnerstag – acht Tage vor dem grossen Schaulaufen – erfährt die Zwölfjährige, dass sie am 16. März an den Arge-Alp-Wettkämpfen in Bellinzona teilnehmen darf. Weil so ein Wettkampftag anstrengend ist, wird sie schon am Abend vorher anreisen. «Ich freue mich und bin traurig zugleich», sagt die 12-Jährige. Sie freut sich über die Qualifikation an einem weiteren Wettkampf. Traurig ist sie darüber, dass sie beim einstudierten Gruppenlauf nun nicht mitmachen kann. «Am Arge Alp kann ich meine Kür, die immer besser wird, wieder einmal vor einer Jury zeigen», so Carla Scherrer.
Profi-Karriere auf dem Eis – ja oder nein?
Rebekka Scherrer sitzt mittlerweile auf einer Bank am Rande des Eisfelds. Sie hat sich in einen langen grauen Mantel gewickelt und verfolgt die Kür ihrer Tochter Carla. Jede Pirouette. Jeden Sprung. Und jede Figur beobachtet die zweifache Mutter genau. Fällt Carla Scherrer bei einem Sprung um, kneift die Mama ihre Augen zusammen. Gelingt dem Mädchen das Drehen auf einem Bein, nickt Rebekka Scherrer zufrieden. Sie fiebere mit, sagt sie zwischendurch. Aber der Blick bleibt auf dem Eisfeld. Ja, sie sei sehr stolz. Aber nicht nur wegen der sportlichen Leistung, sondern weil beide Töchter diszipliniert ihrer Leidenschaft nachgehen würden. «Carla ist ein fleissiges Mädchen – sowohl auf dem Eisfeld als auch in der Schule», sagt Mama Scherrer. Sogar in den Sommerferien will das Mädchen trainieren. So besucht sie jedes Jahr das internationale Sommer-Trainingslager in Films, das übrigens von Trainer Fürer ins Leben gerufen wurde. «Jedes Jahr treffe ich Eisläufer aus der ganzen Welt», schwärmt Carla Scherrer. Und: Das Eiskunstlaufen sei ein undankbarer Sport. «Trainiere ich mal eine Woche nicht, stehe ich nicht mehr so sicher auf dem Eis», erklärt die Jugendliche.
«Ich weiss noch nicht, ob ich Profi-Eisläuferin werden möchte», sagt Carla Scherrer. Solange es ihr Spass mache, wolle sie weitermachen. «Ich möchte weiterhin mein Bestes geben und hart an mir arbeiten», so die Jugendliche. Aber ganz ohne Druck - und längst bestimmte Erfolgsziele. Einer Profi-Karriere gegenüber ist das Mädchen nicht abgeneigt. Aber Vieles müsse zusammenkommen und zusammenpassen. «Wenn ich in den nächsten Jahren die Schule und das Eiskunstlaufen unter einen Hut bringen kann, warum nicht», sagt Carla Scherrer.
Die Show «Wil on Ice» findet am Freitag, 15. März, um 18.30 Uhr im Sportpark Bergholz statt. Der Eintritt ist frei – Zuschauer können eine Kollekte geben.