Märchenerzählen ist eine Kunst, und diese Kunst hat Ursula Reuter aus Jonschwil in vielen Jahren perfektioniert. Dass sie mit Patricia Meier an der Harfe eine wunderbare musikalische Ergänzung finden durfte – sie hatten sich für diesen Anlass zum ersten Mal überhaupt, und da auch nur zu einer einzigen Hauptprobe getroffen -, war ein Glücksfall für alle Zuhörerinnen und Zuhörer. Diese liessen sich auf eine Reise in fremde Länder und Seelenzustände entführen und bedankten sich am Schluss mit einem dankbaren, herzlichen Applaus. Beliebte Anlässe
Wenn das so weitergeht, wird die Bibliothek ihre Anlässe eines Tages wohl im Gemeindesaal abhalten müssen. Denn auch anlässlich der Erzählnacht 2018 strömten so viele Menschen – wie meistens vorwiegend Frauen - in die Räumlichkeiten des Bücherhauses, sodass die Stühle bis ganz zuhinterst aufgestellt werden mussten. Das würde allerdings dem tieferen Sinn solcher Angebote zuwiderlaufen und wäre äusserst schade, würde doch die Atmosphäre leiden, wenn nicht mehr zwischen all den Tausenden von Büchern, Zeitschriften, Hör-CDs und Filmen gesessen werden könnte. Und gerade das ist ja Sinn und Zweck dieser Angebote: Menschen zum Eintauchen in Geschichten zwischen zwei Buchdeckeln zu verführen.
Der rote Faden
Ursula Reuter liess die Zuhörerschaft an ihren Vorbereitungen für diesen Erzählabend teilhaben. Auch zwischen den Märchenerzählungen verknüpfte sie immer wieder diese mystische Welt mit dem heutigen Alltag. Alle erzählten Märchen handelten davon, wie etwas bisher Unbekanntes in die Welt der Menschen gefunden hatte.
So erfuhr das staunende Publikum beispielsweise, wie die Romas zu ihren Wundergeigen gekommen seien, aber auch, warum nicht alle Menschen gleichviel Weisheit geschenkt bekommen haben oder was menschliche Dummheit anrichten kann. Ursula Reuter setzte dabei jedes Wort genau, machte wirkungsvolle Pausen, rollte auch mal mit den Augen, vermied aber alle Effekthascherei, sondern liess in ihrer Zuhörerschaft selber innere Bilder entstehen. Zusammen mit Harfenistin Patricia Meier schuf sie eine märchenhafte Stimmung, die beglückte und zu innerer Ruhe verhalf. So lässt man sich gerne zum Zuhören verführen.
Märchen berühren auch heute
Manchmal meint jemand abschätzig: „Ach, erzähl mir doch keine Märchen!“ Da tut er diesen von Wundern und Geheimnisvollem erfüllten Geschichten jedoch gewaltig unrecht. In Märchen steckt der ganze Schatz an Gefühlen und Lebensweisheiten, der das Menschsein überhaupt ausmacht. Gratis bekommt man allerdings kaum je etwas im Leben. Auch im Märchen muss die handelnde Person sich erst bewähren, bis sie ihren Lohn bekommt. Auf der Reise zum Happy-End muss Abenteuerliches bestanden werden. Oft geht es auch um Abgeben der Kontrolle, um Vertrauen in stärkere Mächte. Darum werden Märchen auch auf der ganzen Welt erzählt. Dabei erfährt man viel über die Kultur und Denkweise eines Stammes, eines Volkes, eines Landes.
Zusammenspiel Erzählung und Musik
Da stand ein majestätisches Instrument - eine elektro-akustische Konzertharfe, wie es auf der Homepage der Künstlerin nachzulesen ist - auf der kleinen Bühne vorne und zog mit seiner speziellen Form und der Grösse alle Blicke auf sich. Dazu tauchte möglicherweise die Frage auf: Wie kann man sich auf diesen vielen Seiten wohl zurechtfinden? Doch Harfenistin Patricia Meier zeigte gleich von Beginn an auf einfühlsame Weise die Schönheit und die vielen Möglichkeiten dieses wahrhaft engelhaften Instruments. Auf einem Programmblatt waren die vorgesehenen Titel aufgelistet.
Die Künstlerin „beschrieb“ auf musikalische Weise einzelne Seelenzustände der handelnden Märchenfiguren. Manchmal war es nur ein kurzes Streichen über die unzähligen Seiten, um eine Gemütsregung anzuzeigen, manchmal ein Klopfen auf dem Resonanzboden, manchmal aber auch ein richtiges Klanggewitter. Dieses Miteinander verlief ganz natürlich, wie wenn die beiden Frauen das schon jahrelang miteinander eingeübt hätten. Sehr schön war auch, dass immer nur ein Element zu geniessen war, entweder die ruhige und doch so wandlungsfähige Stimme der Erzählerin oder das berührende Harfenspiel der Musikerin.
Jedem Land seine eigenen Märchen
Da die Urbedürfnisse von Menschen überall ungefähr die gleichen sind, haben auch Märchen aus fernen Ländern oft ein Pendant in unseren Breitengraden. Das fiel besonders beim Märchen aus Sibirien über die Herkunft der Bären auf. Da muss ein armer, alter Ehemann auf Geheiss seiner Frau im Wald Holz sammeln und macht dabei die Bekanntschaft mit einer sprechenden Birke. Als seine Frau das hört, schickt sie ihn unverzüglich wieder in den Wald, damit die Birke ihm sofort einen Wunsch erfülle. Und – schwupps! – zuhause liegt bereits wunderbar aufgeschichtetes feines Astwerk bereit. Doch die Frau ist weiterhin unzufrieden – die Gier treibt muntere Blüten, der Mann kann sich nicht gegen die Ansprüche seiner Frau wehren.
Bestrafte Masslosigkeit
Die Frau will erst gutes Brennholz, dann Mehl in Fülle und schliesslich unermesslich viel Gold. Und damit beginnen die Probleme. Schliesslich wünscht sich die Frau, dass alle Menschen vor ihnen Angst haben sollten, was die Birke auch problemlos erfüllt. Nur dumm, dass die gierige Person nun auch ihren Mann nicht mehr mag. Am Schluss streiten die Zwei derart, dass sie sich am Boden wälzen, bis sie schliesslich zu raufenden Bären werden. Man dachte bei diesem Märchen unweigerlich an den „Fischer und sine Fru“, die grimm’sche Geschichte von Unersättlichkeit, die schliesslich wieder ins alte Elend zurückführt.
Entstehung der Welt
Um dieses Geheimnis gibt es unzählige Geschichten. Nicht nur die Bibel erzählt davon, sondern auch viele Märchen befassen sich damit. Auf den Philippinen gibt es dazu eine ganz besonders poetische Erzählung. Da hängt eine Frau beim Kochen ihren Schmuck an die niedrige Decke, da in dieser Zeit der Himmel noch ganz tief hängt. Doch weil der Mann beim Mörsern von Reiskörnern ständig den Kopf an der Himmelsdecke anschlägt, wird er ungehalten und ruft: „Wenn doch der Himmel höher hinge!“ Und schon wird dieser Wunsch Wirklichkeit, dumm nur, dass nun Kochherd, Haarreif und Perlenkette hoch oben hängen – als Sonne, Mond und Sterne. Auch hier fand die Harfenistin die passenden, diesmal besonders perlend fallenden Töne, die die Geschichte akustisch abrundeten.
Rolle von Mann…
Männer sind in Märchen oft die Mutigen, die die Prinzessin erobern wollen, dazu jedoch meistens eine List brauchen. Sie können aber auch untertänig oder gar strohdumm sein. Fast immer haben sie einen Beruf, sind Maler oder Bauer oder halt auch einfach nur Ehemann oder Liebhaber. Es kommt sogar vor, dass sie dem Tod trotzen wollen, wie das im Märchen von Tuo-lan-ka, dem Maler aus China, zum Ausdruck kommt. Der malt Gesichter, immer nur Gesichter. Irgendwann aber muss er doch von der Erde abtreten, nimmt jedoch alle Bilder mit zum Himmelskaiser und darf nun jedem Neugeborenen eines seiner Gesichtsbilder schenken. Auf der Erde bitten die chinesischen Frauen deshalb gerne um ein schönes Gesicht für ihr werdendes Kindlein.
…und Frau in den Märchen
Frauen haben unterschiedliche Rollen. Einmal sind sie die Unersättlichen, Habgierigen, die Verführerinnen, die ihren Mann zu immer noch mehr anstiften. Ein andermal dagegen sind sie die „Weisen Frauen“ oder eine kluge Fee, haben einen sechsten Sinn, helfen, wo das gewünscht wird, und zwar immer im Sinne der Wünschenden. Was die damit anstellen und wie das Gewünschte herauskommt, liegt jedoch ganz in deren Händen. Es heisst deshalb auch beim Wünschen: Erst denken, dann wünschen.
Apéro
Wie immer gab es danach einen feinen Apéro mit Blätterteiggebäck und goldfarbenem Weisswein aus geheimnisvollen Beeren, dessen Herkunft Ursula Reuter in ihrem letzten, aus Persien stammenden Märchen so genüsslich geschildert hatte. Dabei waren die Frauen des Bibliotheksteams wie immer aufmerksame Gastgeberinnen. Die glücklichen, zufriedenen Gesichter der abendlichen Gäste waren für sie hoffentlich eine kleine Entschädigung für den Zusatzaufwand, der sie an solchen Abenden jeweils leisten. Als sympathische Geste hatte Ursula Reuter als "Bhaltis" märchenhaft gefaltete Blätter mit einem inwendig aufgedruckten Märchen aufgelegt, als Geschenk auf den Heimweg. Und wer wollte, konnte sich Harfenmusik auf DCs für zuhause erstehen.
2018 feiert die Bibliothek bereits ihr zwanzigjähriges Jubiläum. Dies soll mit vier verschiedenen Anlässen gebührend gefeiert werden. Näheres wird in der Tagespresse zu lesen sein.
Märchenerzählerin Ursula Reuter sprach nicht von der Hölle, sondern vom „Herrn der Tiefe“, aber im Übrigen war es dieses Märchen, wunderbar erzählt.
Der blinde Tarwaa – Märchen aus der Mongolei
Auch im Radio sind Märchen ein Thema, hier im Zusammenhang mit Musik – das Roma-Märchen darüber, wie die Geige zu den Menschen kam, beginnt bei 11:00, vorher erzählt Hasib Jaenike ein anderes – aber es lohnt sich, da hineinzuhören.
Zum Nachhören – Wie die Geige zu den Menschen kam
Auf den Philippinen erzählt man sich die Entstehung der Welt so:
Wie die Sonne, der Mond und die Sterne entstanden
Wie die Weisheit verteilt wurde, zeigt das folgende Märchen…
In Bayern erzählt man sich die fehlende Weisheit allerdings so:
Und hier die Fassung der Gebrüder Grimm, ein Gegenstück zum Märchen aus Sibirien über die Herkunft der Bären

Ursula Reuter hatte sich ganz besondere Märchen ausgelesen und erzählte diese auf wohltuend unaufgeregte, aber dennoch äusserst spannende Art.

Passt nicht unbedingt in die Handtasche, dieses majestätische Instrument namens elektro-akustische Konzertharfe.

Die beiden Künstlerinnen nahmen den dankbaren Applaus des Publikums sichtlich gerührt entgegen.

Patricia Meier ist eine gefragte Künstlerin auf ihrem nicht alltäglichen Instrument.

Auf dem Tablet standen die Noten, aber sehr oft wurden diese gar nicht gebraucht, denn Patricia Meier improvisierte oft.

Ursula Reuter strahlte...

...auch beim Zuhören grosse Ruhe aus.

Mal wurde auf den Resonanzboden geklopft...

...mal an den passenden Saiten gezupft - es war ein Ohrenschmaus und eine Augenweide, Patricia Meier auf ihrem Instrument zu erleben.

Was gibt es Schöneres als Menschen zu begrüssen, denen Geschichten - gerade auch Märchen - so viel bedeuten, dass sie auch an einem nasskalten Abend noch ausgehen mögen? Bibliotheksleiterin Jolanda Erismann war die Freude jedenfalls ins Gesicht geschrieben.

Am Schluss der Märchenstunde bedankte sich Jolanda Erismann mit herzlichen Worten bei den beiden Frauen, die so viel Freude in die Bibliothek gebracht hatten.