Es hat vermutlich noch kaum je eine derart unterhaltsame Musikgeschichtsstunde gegeben wie gerade bei diesem Anlass der Oberuzwiler Donnerstags-Gesellschaft in der Alten Gerbi. Die vier Musikerinnen und Musiker der Gruppe „Musique simili“ gingen den Ursprüngen von Brahms kompositorischem Schaffen nach. Der Besuch im Café zum „Rothen Igel“ gab darüber Auskunft - und begeisterte mit einem musikalischen Feuerwerk auf höchstem Niveau. Johannes Brahms (1833 – 1897)
Geboren wurde der Komponist und ausgezeichnete Instrumentalist – Kontrabass, Horn, Klavier – in Hamburg. Schon als kleiner Bub zog er mit seinem musizierenden Vater durch die Kneipen Hamburgs und lernte da die ursprüngliche Volksmusik aus erster Hand kennen. Schon früh zeigte sich auch seine Begabung fürs Komponieren. Er wurde von namhaften Künstlern der damaligen Zeit unterrichtet und bekam eine breite Ausbildung, sowohl instrumental wie auch im kompositorischen Bereich. Diese Liebe zu der Musik „der kleinen Leute“, welche ihren Gefühlen auf ganz unverfälschte Art Ausdruck zu geben verstanden, beeinflusste Brahms in seinem späteren Wirken stark.
Seine unerfüllte Liebe zu Clara Schumann, der Frau des später in einer Nervenklinik dahinvegetierenden Robert Schumann, bewog den sensiblen, teilweise auch als „raubauzig“ beschriebenen Mann, nach Wien zu ziehen. Diese Sehnsucht ist in vielen Brahms-Liedern deutlich herauszuhören. Als man ihn gegen Ende seines Lebens gefragt habe, was wohl einmal an seiner Wohngasse stehen werde, wenn er nicht mehr sei, habe er lakonisch erwidert: „Wohnung zu vermieten!“
Szenen aus dem Wiener Künstlerleben
Der „Rothe Igel“ in Wien war die Stammbeiz des Musikers. Man erzählt sich, dass es im Keller des Lokals ein Fass Tokajer nur gerade für Brahms allein gegeben habe. Er lernte da auch unzählige Leute kennen. Wien gehörte schon damals zu den Kulturhochburgen Europas. Die Kaffeehäuser waren eine Art Treibhaus für künstlerische Begabungen. Literaten, Musiker, Maler – es waren vorwiegend Männer damals – holten sich bei Kaffee und vielfach auch reichlich Alkohol neue Impulse für ihre Arbeit. Und sollte einmal eine künstlerische Durststrecke auftreten, fand sich bestimmt ein Gesprächspartner, der dieses Stadium auch schon einmal durchgemacht hatte. Diese Ambiance bringt das Ensemble „Musique simili“ wunderbar auf die Bühne.
Fürs Auge…
Die Vier von „Musique simili“ passen sich auch in ihrer Kleidung dem Thema „Tzigane“ – Zigeuner – an. Geigerin – und auch Multi-Instrumentalistin – Juliette Du Pasquier trug beispielsweise ein den spanischen Flamenco-Tänzerinnen angenähertes Kleid, dazu an den Fesseln zwei schellenbehängte Fussbändel. Die feinen Glöckchen kamen auch immer mal wieder einen Einsatz, wenn ein feuriger Csardas auf dem Programm stand. Der Gitarrist und Liedersänger Ioanes Vogele, dessen Interpretation von Roma-Liedern tief berührte, glich auch optisch einem dieser dunklen Musiker aus dem Volk der Fahrenden. Und Marc Hänsenberger, verwachsen mit seinem Klavier-Akkordeon, hie und auch am Klavier sitzend, glänzte als Geschichtenerzähler. Bedient wurden die Drei von Aline Du Pasquier, die zu Beginn nur ganz nebenbei auf der Bühne zu sehen war, aber immer stärker ins Geschehen einbezogen wurde…
… und fürs Ohr
Eigentlich gibt es die Worte gar nicht, die diesen Musikabend genau beschreiben könnten. Ausdrücke wie „hinreissend, anrührend, zu Herzen gehend, virtuos, atemberaubend, schwungvoll“ decken immer nur einen kleinen Teil der Wirkung ab, die die Darbietung von „Musique simili“ bei der Zuhörerschaft erzeugt. Zum Glück ist Musik auch ohne Sprache verständlich. „Brahms Tzigane“ ging direkt ins Herz, liess ob der Fingerfertigkeit und der gefühlvollen Darbietung nur noch staunen und machte einfach glücklich.
Wenn Geigerin – und Kontrabassistin oder Gitarristin – Juliette Du Pasquier zu ihrer Geige griff, wartete man als Zuhörer oder Zuhörerin schon atemlos nur darauf, wann das nächste Feuerwerk kommen werde. Man sah die Finger tanzen, kam selber beim Mitfiebern ausser Atem und genoss darauf die langsamen, feinen Takte, um selber wieder herunterfahren zu können. Und vor dem geistigen Auge wirbelten feurige Zigeuner ihre Liebste herum, flogen Röcke, man sah unermüdlich aufspielende Musiker. Marc Hänsenberger, Arrangeur und Klavier- sowie – und das vor allem - Akkordeonspieler, entlockte seinem oft zärtlich gestreichelten Instrument ebenfalls die unterschiedlichsten Seelentöne.
Szenisches mit Musik verbunden
Das ganze Programm war als eine Art Theater aufgebaut. Zeitweise wähnte man sich wirklich in diesem „Rothen Igel“, sah den Komponisten dort sitzen und sah zu, wie Sprecher Marc Hänsenberger sich mit einem umgehängten Bart in den Komponisten verwandelte. Serviertochter Aline kam mit dem Besen auf die Bühne, sang dann aber ihre Lieder über Mägdelein in zarten Liebesbanden, Geschwisterliebe oder andere wichtige Lebensthemen auf ausdrucksstarke Weise.
Der Klassiker „Guten Abend, gut Nacht“ wird noch heute an vielen Kinderbetten gesungen, in der Alten Gerbi summte oder sang auch das Publikum mit. Leider ist dieser Kulturraum in akustischer Hinsicht nicht gerade vollkommen, macht dies aber mit seinem geschichtsträchtigen Hintergrund und seiner Ambiance mehr als wett. Und wer nach dem Konzert eine CD kaufte, kann sich über deren tadellose Qualität freuen, denn darauf versteht man wirklich jedes Wort.
Unverwüstliche Lebensthemen
Die Lieder Brahms sind vielfach geprägt von Liebeslust, aber fast noch mehr von Liebesleid. Selber nie wirklich als Familienmensch angekommen, war ihm Entsagung und unerfüllte Liebe aus eigener Anschauung sehr bekannt. Und Angehörige fahrender Volksgruppen hatten schon immer ein schwieriges Leben, waren ausgegrenzt und mit ihrem Lebensstil ehrbaren Bürgern äusserst suspekt. In Ungarn und Teilen des Balkans fanden sie in ihrer ganz eigenen Musik ein Ventil für all die Demütigungen und schöpften daraus Lebensfreude, konnten für ein paar Stunden ihr schweres Los vergessen. Diese Schwermut, verbunden mit übermütigen Tanzweisen, erschloss „Musique Simili“ der Zuhörerschaft auf wunderbare Weise. Wenn beispielsweise Ioanes Vogele sang, brauchte es nur wenig, bis sich Tränen ihren Weg bahnen wollten.
Sehr abwechslungsreiche Musik
Das Ensemble hat sich tief in die Geschichte der Volksmusik eingelesen und eingehört und dazu das reiche Liederschaffen von Brahms studiert. Daraus entstand eine stimmige Mischung von klassischen Brahms-Werken - allerdings als „Musique-simili“ eingefärbte Arrangements - sowie Eigenkompositionen von Marc Hänsenberger nach Gedichten von Rainer Frei. Immer wieder wechselte auch die Besetzung, spielte etwa die Violonistin Du Pasquier Kontrabass oder auch Gitarre, dazu sangen je nach Lied alle oder auch nur zwei im Duett – es blieb spannend bis zum Schluss.
Sogar die Pause wurde theatermässig eingeläutet: Im Haus zum „Rothen Igel“ wurden den Gästen Suppe serviert und aus leeren Tellern herausgelöffelt, wobei es Servierfrau Aline dem Publikum überliess, ob sie sich lieber erheben oder den Drei beim Essen zusehen wollten. Mit riesigem Applaus wurde das Ensemble am Ende des Konzerts zu zwei weiteren Zugaben ermuntert. Der Abend wird für viele unvergessen bleiben…
Projekt „Fahrende und ihr Leben“
Der Anlass gehörte zum Projekt „Kulturbühne“ und war Ausgangspunkt des Bogens, den die Donnerstags-Gesellschaft zum letzten Anlass im November schlagen wollte. Dann wird es einen Vortrag mit dem Titel: „Deine unbekannten Nachbarn, das Volk der Jenischen und Sinti“ geben. Dazu wird eine Ausstellung in der Unterkirche der katholischen Kirche Oberuzwil eingerichtet werden.
Nähere Angaben zu den Anlässen der Donnerstags-Gesellschaft - samt den Daten zur Ausstellung „Fahrende Volksgruppen…“ gibt es hier:
Donnerstags-Gesellschaft Oberuzwil
Kurzbiografie von Johannes Brahms

Auch Ioanes Vogele zeigte die Verbundenheit Brahms mit der Musik der Sinti und Roma, hauchte dem Komponisten symbolisch – und auch etwas spät – feurige Weisen ein.

Bei dieser Szene waren nur Saiteninstrumente zu hören mit Ioanes Vogele, Marc Hänsenberger am Kontrabass und Juliette Du Pasquier.

Marc Hänsenberger hängte sich einen Brahms-Bart um und schlüpfte für einen Moment in dessen Persönlichkeit.

Aline Du Pasquier war Hüterin des Cafés, erfüllte den Raum aber auch mit ihrem hellen Sopran bei verschiedenen Liedern.

Dieses Akkordeon hat es gut, es wird sogar gestreichelt, wenn es Marc Hänsenberger „drum“ ist.

Brahms war während des ganzen Programms anwesend, als Büste, als Notenheft, als Klang.

Juliette du Pasquier verführte mit ihrer Geige das Publikum, liess die Finger tanzen und die Saiten weinen, flüstern, klagen…

Der Bilderrahmen zeigte immer wieder wechselnde Sujets: Hier macht Brahms Morgentoilette im Gesicht…

Die Lieder in der Sprache der Sinti und Roma – Romanes – berührten auf eigenartige, etwas melancholische Weise.

Alle vier Persönlichkeiten begeisterten mit ihrer farbigen, klangvollen und virtuos vorgetragenen Darbietung das grosse Publikum. Rund 100 Leute sassen im Gerbe-Raum.

Nach dem Schluss war doch noch nicht Schluss: Zwei Zugaben liessen nochmals die Stimmung aufleben.